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"Ich sehe immer den Menschen vor mir." Das Leben des deutschen Offiziers Wilm Hosenfeld

Lesung und Gespräch mit Hermann Vinke

28. Januar 2019


Bonifatiushaus -  19.00 Uhr
Fulda


In kaum einer anderen europäischen Metropole haben die Deutschen im Zweiten Weltkrieg so gewütet wie in Warschau. In einem Inferno von  Massenmord und Zerstörung – Hitler ließ die polnische Hauptstadt dem Erdboden gleichmachen – gab es einen Retter und Menschenfreund in Uniform, dessen Lebensgeschichte  bislang noch nicht das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit erreicht hat: Wilm Hosenfeld, der als Wehrmachtsoffizier das Gegenteil von dem tat, was Zehntausende von deutschen Soldaten und Sicherheitskräften anrichteten, die im besetzten Polen die Führungsschicht des Landes liquidierten und Völkermord an den Juden verübten.

Hosenfeld (1895 – 1952) bewahrte Juden und andere polnische Bürger vor dem sicheren Tod. Wahrscheinlich waren es über 60 Menschen, die dank seiner Hilfe überleben konnten. Hosenfeld war Held und Opfer zugleich, denn sieben Jahre nach Kriegsende starb er in sowjetischer Gefangenschaft, ohne seine Frau Annemarie, geb. Krummacher (1898 – 1971), und die gemeinsamen fünf Kinder wieder gesehen zu haben.

Vor dem Hintergrund von Mord und Totschlag wirkt der Offizier heute wie eine Lichtgestalt in finsterer Zeit. Sein Name bleibt untrennbar verbunden mit dem des jüdischen Komponisten und Musikers Wladyslaw Szpilman (1911 – 2000). Ihn hatte der Hauptmann im Versteck eines Warschauer Wohnhauses zufällig entdeckt und sein Überleben organisiert. Durch den Film Der Pianist von Roman Polanski wurde Szpilman weltberühmt.

Die Kriegsjahre verbrachte Hosenfeld ausschließlich in Polen, wo er zunächst ein Gefangenenlager in Pabianice südlich von Lodz aufbaute und anschließend in Warschau eine Sportschule für Wehrmachtsangehörige leitete. Diese sechs Jahre wurden zum Wendepunkt in seinem Leben. Unter Missachtung aller persönlichen Risiken zeigte sich der Offizier von Anfang an gegenüber den Polen als hilfsbereit, großzügig und entschlussfreudig, wenn es galt, Menschen vor dem Terror seiner Landsleute zu bewahren. Sein moralischer und ethischer Kompass blieb während des Krieges intakt.

Der Pädagoge Hosenfeld führte Tagebuch und schrieb zahllose Briefe nach Thalau, einen Ort in der Rhön, wo er selber an der Dorfschule unterrichtet hatte und im Krieg seine Frau allein auf sich gestellt die Kinder groß zog. Durch seine umfangreichen Aufzeichnungen wurde Hosenfeld zum Chronisten des mörderischen Alltags im besetzen Warschau, zunächst des Aufstandes im jüdischen Getto 1943 und ein Jahr später des Warschauer Aufstandes. Der Briefwechsel mit seiner Frau, einer in Worpswede bei Bremen aufgewachsenen Pazifistin, insbesondere aber auch das Warschauer Tagebuch spiegeln seine Entwicklung von einem begeisterten Anhänger des Strategen Hitler zu einem entschiedenen Gegner des NS-Regimes.

Hosenfeld, Mitglied der SA, des Nationalsozialistischen Lehrerbundes und seit 1935 auch der NSDAP, vollzog einen radikalen Wandel. Prägungen durch das streng katholische Elternhaus und die Wandervogel-Bewegung bewahrten ihn davor, zum Täter zu werden. Vielmehr nutzte er den schmalen Grad, den ihm seine Funktion als Sportoffizier bot, bedrängten Menschen zu helfen.

Seine außergewöhnliche Lebensgeschichte bietet viele Anknüpfungspunkte für die Gegenwart: Sie dient als zeitloses Vorbild für die Aussöhnung zwischen Polen und Deutschland. Zugleich liefert sie Maßstäbe für den Umgang mit Menschen, die vor Gewalt, Verfolgung und Krieg auf der Flucht sind. Wilm Hosenfeld sah immer den einzelnen Menschen vor sich. Auf diese Weise gelang es ihm, den verbrecherischen Charakter Hitlers und seiner Mittäter zu durchschauen und etwas dagegen zu tun, das heißt: Widerstand zu leisten.

Hermann Vinke, geb. 1940 in Rhede-Ems, Journalist und Autor zahlreicher Bücher, darunter Das kurze Leben der Sophie Scholl (Dt. Jugendliteraturpreis), Carl von Ossietzky, Cato Bontjes van Beek, Wilm Hosenfeld - >Ich sehe immer den Menschen vor mir<, Zivilcourage 2.0 – Vorkämpfer für eine gerechte Zukunft (mit Kira Vinke). Studium der Geschichte und Soziologie. Redakteur bei Zeitungen und beim NDR. Korrespondent in Japan, USA, DDR und Ostmitteleuropa. 1992-2000 Programmdirektor Hörfunk Radio Bremen.